Meine Ansprache am Mahnmal in der Friedrichsthaler Bismarckstraße am Volkstrauertag 2022.
Sehr geehrte Ratsmitglieder, verehrte Vertreter der Kirchengemeinden, Vereine und Verbände, werte Herren der Presse,
sehr geehrte Damen und Herren,
zwei Kriege lösen eine besondere historische Verantwortung Deutschlands aus.
Nur ein Prozent der Deutschen denkt beim Zweiten Weltkrieg an die Ukraine. Eine im Dezember 2021 durchgeführte MEMO-Studie zeigte, dass in den Umfragen die Kriegserinnerung nach wie vor westeuropäisch orientiert ist. Fast 75 Prozent nannten Frankreich als Land, das am stärksten mit dem Krieg in Zusammenhang gebracht wird. Bezeichnenderweise wurde Russland mit 36,3 Prozent genannt und nicht die Sowjetunion (8 Prozent), bezeichnenderweise nehmen alle anderen Sowjetrepubliken die letzten Listenplätze ein: wie z.B. Belarus mit nur 0,1 Prozent.
Zwei Punkte lassen sich daraus ableiten: Der deutsche Vernichtungskrieg im Osten wird immer noch als „Russlandfeldzug“ verstanden, nicht als Krieg gegen die Sowjetunion. Dies führt zu der verzerrten Wahrnehmung der historischen Verantwortung angesichts der Verbrechen, die die Deutschen in der Sowjetunion begangen haben. Die einzig angemessene Folgerung aus der Geschichte des Zweiten Weltkrieges besteht jedoch in der Einsicht, dass Deutschland nicht nur Russland gegenüber die Pflicht zur Übernahme historischer Verantwortung hat, sondern auch und in gleichem Maße gegenüber der Ukraine.
Die deutsche Gesellschaft während der NS-Zeit unterschied kaum nach den ethnischen Zugehörigkeiten der Menschen aus der Sowjetunion und brandmarkte sie alle als „Russen“.
Sowohl die Wehrmacht an der Ostfront, als auch die lokale Bevölkerung hatte wenig Ahnung vom multinationalen Charakter der Sowjetunion – für die Deutschen war ein Sowjetbürger gleichbedeutend mit einem Russen.
In der NS-Ideologie verbanden sich radikaler Antibolschewismus und Antisemitismus mit dem Slawenhass.
Die Russifizierung des Sowjetischen ging in der Nachkriegszeit weiter: Die Wehrmachtsveteranen sprachen von ihrer Zeit in Russland, auch wenn sie in Kiew oder in Vitebsk gewesen waren.
Das Jahr 1945 ist in der deutschen Wahrnehmung mit dem Klischee „dann kam der Russe“ verbunden – gemeint nicht im positiven Sinn, sondern bezogen auf Russen als Täter, Plünderer, Vergewaltiger. Auch hier spielt der multinationale Charakter der Roten Armee keine Rolle, und so weiß heute kaum jemand, dass zum Beispiel Auschwitz von einem Muslim – Magomed Tankajev aus Dagestan – befreit wurde. Es war seine Division, die als Erste das Gelände des Vernichtungslagers betrat, ihm folgten die von Russen, Ukrainern und Letten angeführten Regimenter.
Die Gedenkstätten-Aktivisten, die sich in den 1970er Jahren für die Erinnerung an die vergessenen Opfer einsetzten, übernahmen die undifferenzierte Einordnung. Bis heute tragen sowjetische Gräber oftmals den Namen „Russengräber“ oder „Russenfriedhöfe“.
Der Vermerk „besetzte Ostgebiete“ als Herkunftsort in den deutschen Arbeitsscheinen wurde nun von Historikerinnen und Historikern genauer spezifiziert. Doch durch die Kluft zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit bleibt in der kollektiven Wahrnehmung bis heute vor allem Russland als Referenz für den Krieg, seine Opfer und Sieger bestehen.
Die erinnerungskulturelle Einengung in Deutschland verbindet sich mit dem allgemeinen Unwissen über das Geschehen an der Ostfront. Wenig bekannt ist, in welchem Ausmaß auch die nicht-jüdische Bevölkerung gelitten hat. In Belarus wurden 1,7 Millionen Menschen umgebracht, von neun Millionen der Vorkriegsbevölkerung.
Hitler führte den Krieg nicht gegen Russland und nicht gegen die Ukraine oder Belarus – er führte ihn gegen den Erzfeind, den „jüdischen Bolschewismus“, den er auf das ganze Land projizierte.
Spricht man vom Hass und von der Entmenschlichung des Gegners, werden die Parallelen zum heutigen völkerrechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine deutlich.
Zum Feind kann aus der Sicht Russlands jeder werden, der gegen den Kreml und gegen die russische Besatzung ist. Das heißt, auch ukrainische Juden, die man angeblich von ukrainischen „Nazisten“ befreien will.
Für die Menschen in der Ukraine ist es höchst symbolisch, dass es die gleichen Orte sind, die 1941 angegriffen wurden und 2022 erneut angegriffen und bombardiert werden. Kiew, Charkiv, Odessa, Luzk, Zhitomir und Lviv. Die Erinnerungen an den schrecklichen Krieg 1941-1945 werden geweckt und überdeckt von den schrecklichen Geschehnissen der Gegenwart.
Die historische Verantwortung Deutschlands besteht darin, nie wieder gleichgültig gegenüber den Opfern von Krieg und Gewalt zu sein. Deshalb soll der Ukraine unsere uneingeschränkte Solidarität gelten.
Am 24. Februar überfiel Russland die Ukraine.
Die Welt war schockiert und protestierte. Europa war im Mark erschüttert und Friedensdemonstrationen füllten die Innenstädte, auch hier in unserer beschaulichen Stadt versammelten sich die Menschen und zündeten Kerzen an und stellten Schilder mit Friedenswünschen auf.
Putin hat sich davon nicht beeindrucken lassen. Er sieht sich noch immer auf Gedeih und Verderb dem Erfolg seines Angriffskrieges verpflichtet, den er ohne Not vom Zaun gebrochen hatte.
Anfänglich wirkten beschönigende Formulierungen noch beruhigend auf die eigene Bevölkerung, nach und nach tritt die Wahrheit über den Krieg und seine Folgen für die russische Bevölkerung auch im medial gleichgeschalteten russischen Staat immer offener zutage und die Bevölkerung opponiert – soweit dies in einem derart repressiven Staatswesen überhaupt möglich ist.
Diese Opposition wäre aber wohl nicht aufgeflammt, würde Putin im Handstreich den Sieg errungen haben. Doch die Ukraine erwies sich zusehends als ein ernst zu nehmender zäher Gegner, der auch – mit internationaler Unterstützung – in der Lage ist, dem russischen Staat Paroli zu bieten.
Die Zurückhaltung Deutschlands, der bedrängten Ukraine mit Waffenlieferungen beizustehen, hat international für Befremden gesorgt. Die besondere Lage Deutschlands als mehrfacher Aggressor gegen die Länder im Osten, hat die Entscheidung für einen aktiveren Hilfsdienst erschwert. Ein epochaler Wechsel in der deutschen Außenpolitik gen Russland war unabdingbar.
Deutschland ist in der Folge nicht nur Lieferant von Kriegswaffen geworden, unser Land hat auch humanitäre Hilfe geleistet. Wir bieten auch hier in unserer Stadt, ebenso wie alle anderen deutschen Kommunen unzähligen Menschen neue Heimat und im Ansatz auch Geborgenheit. Das ist für uns keine leichte Aufgabe und eine organisatorische wie auch finanzielle Herausforderung.
Für die unvermeidlichen Einschränkungen für unser Gemeinschaftsleben, die sich durch die Belegung von Sporthallen ergaben, will ich an dieser Stelle auch wieder um Verständnis werben. Bedenkt man aber die physischen und psychischen Belastungen, denen die nach hier geflüchteten Menschen ausgesetzt waren und sind, ist dieses vorübergehende Opfer durchaus als erträglich zu betrachten.
Meine Damen und Herren!
Was heißt Soldat sein im Krieg? Seit dem späten 19. Jahrhundert gibt es in den meisten Ländern die Wehrpflicht, also die grundsätzliche Verpflichtung für junge Männer, Wehrdienst zu leisten, im Kriegsfalle für die meisten Männer im wehrfähigen Alter, als Soldat zu dienen.
Dies galt ursprünglich als staatsbürgerliche Errungenschaft, von diesem Bewusstsein ist aber – insbesondere nach den Katastrophen der zwei Weltkriege – nur noch wenig geblieben, heutzutage haben die allermeisten Demokratien Freiwilligenstreitkräfte.
Soldat sein im Krieg bedeutet vor allem ein Leben im Ausnahmezustand. Offiziell galt immer die Verteidigung des eigenen Landes als Aufgabe, und dies war auch die primäre Motivation im Krieg. Nicht selten wurden Soldaten aber zur Eroberung fremder Gebiete eingesetzt. Soldaten müssen ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit, auf ihr Leben zur Disposition stellen, zugleich ist ihre wichtigste Aufgabe das Zerstören und Töten.
Neben Gewalt, Tod, Verletzung und Traumatisierung war sicher der Zusammenhalt der militärischen Kleingruppen die zentrale Erfahrung der Soldaten, zwar agierten sie in einem strengen Korsett von militärischer Hierarchie und Befehlserteilung. Im Kriegseinsatz bestimmte aber die Kameradschaft maßgeblich das Denken und oft auch das Überleben. Dieser Zusammenhalt stärkte die Kohäsion und damit auch den Druck nach innen, konnte sich aber auch negativ auf Außenstehende, auf Zivilisten und Kriegsgefangene auswirken.
Die Weltkriege brachten auch eine neue Dimension der Kriegsgefangenschaft mit sich. Ein erheblicher Teil der Soldaten geriet in Gefangenschaft, meist bei Rückzügen und Kriegsniederlagen, Millionen starben während der Weltkriege in Lagern an Ernährungsmangel, Seuchen oder wurden Opfer unmittelbarer Kriegsverbrechen.
Zwar sind Kriegsverbrechen in den meisten Konflikten der Geschichte zu verzeichnen, im Zweiten Weltkrieg nahmen sie jedoch eine neue Dimension an. Die deutsche Armee hat im Zweiten Weltkrieg in präzedenzlosem Ausmaß Kriegsverbrechen verübt, vor allen an den sowjetischen Gefangenen. Sie war aber auch an der Ermordung der Juden, Sinti und Roma und anderer Zivilisten beteiligt, so besonders in Polen, Jugoslawien und der Sowjetunion.
Die kämpfenden Truppen bildeten den bewaffneten Arm der Diktatur, zugleich waren die Männer Teil der deutschen (wie auch österreichischen oder sudentendeutschen) Gesellschaft und damit hochgradig in den Nationalsozialismus eingebunden. Nicht wenige waren von der Ideologie völlig überzeugt.
Dies war sicher ein Faktor dafür, dass sich so viele deutsche Soldaten an Kriegsverbrechen beteiligten und nur die wenigsten an der deutschen Vernichtungspolitik Kritik übten.
Zudem waren sie natürlich eng an das militärische System eingebunden, d.h. vom Verhalten ihrer Vorgesetzten abhängig. Dennoch waren die Mordbefehle gegen Kriegsgefangene und Zivilisten auch im Zweiten Weltkrieg rechtswidrig und hätten – formal gesehen – verweigert werden müssen.
Nur wenige folgten ihrem Gewissen und entzogen sich kriminellen Einsätzen oder verweigerten diese sogar.
Ein erheblicher Teil der Veteranen war durch die Kriegsgewalt für lange Zeit traumatisiert, dennoch hielten viele die damalige Gewalt gegen Kriegsgefangene und Zivilisten für legitim, und es hat Jahrzehnte gedauert, bis sich die deutsche Gesellschaft aus diesem Denken gelöst hat. Auch der militärische Widerstand gegen Hitler bis hin zum Attentat vom 20. Juli 1944 war noch lange nach dem Krieg mit dem Odium des Verrats behaftet.
Nach 1945 gelang es der neuen Demokratie in Westdeutschland erst allmählich, auch die Armee zu demokratisieren. Die Einsicht in den völkerrechtswidrigen Charakter der deutschen Kriegsführung im Dritten Reich ist sehr spät erfolgt, ebenso wie die Annullierung der militärischen Unrechtsjustiz und die Anerkennung von Desertionen aus dieser Zeit.
Dennoch besteht weiterhin ein Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und der Ausübung militärischer Gewalt. Dies liegt einerseits an der hierarchischen Struktur des Militärs und der Einschränkung der Grundrechte im Wehrdienst.
Zum anderen haben sich die Deutschen im Frieden eingerichtet und delegieren die Sicherheitspolitik und damit auch militärische Einsätze gerne an andere. Die neue Unsicherheit der internationalen Lage nach 1990 führt jedoch deutlich vor Augen, dass es weiterhin Kriege gibt und damit auch Soldaten (und Soldatinnen) die Erfahrung von Gewalt und Tod machen müssen. Gerade deswegen sind die Einsatztoten der Bundeswehr auch Bestandteil des Totengedenkens.
Und auch in diesem Geiste versammeln wir uns hier in Friedrichsthal alljährlich zum Volkstrauertag und legen an den Ehrenmalen Kränze nieder.
Wir denken heute an die Opfer von Gewalt und Krieg, an Kinder, Frauen und Männer aller Völker.
Wir gedenken der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren.
Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden, Teil einer Minderheit waren oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde.
Wir gedenken derer, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft geleistet haben, und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten.
Wir trauern um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, um die Bundeswehrsoldaten und anderen Einsatzkräfte, die im Auslandseinsatz ihr Leben verloren.
Wir gedenken heute auch derer, die bei uns durch Hass und Gewalt Opfer geworden sind.
Wir gedenken der Opfer von Terrorismus und Extremismus, Antisemitismus und Rassismus in unserem Land.
Wir trauern mit allen, die Leid tragen um die Toten und teilen ihren Schmerz.
Aber unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern, und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der ganzen Welt.
Verehrte Damen und Herren, an dieser Stelle spreche ich Ihnen meinen herzlichen Dank für Ihre Teilnahme an der heutigen Veranstaltung aus. Ganz herzlich sind Sie auch zur stillen Kranzniederlegung auf dem Bildstocker Friedhof eingeladen.
Ich danke an dieser Stelle für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen schon jetzt einen guten Nachhauseweg.
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